Von meiner Mutter und der Dankbarkeit auch in der Releasing-Arbeit

Jetzt, im 2. Sommer der Corona-Pandemie 2021, sehnen sich die Menschen mehr denn je nach der Weite des Meeres oder den Höhen der Berge und möchten selbstverständlich „wie früher“ wieder Urlaub machen. Wir Nachkriegskinder, unsere Kinder und Enkelkinder im Mittelstand waren es ja als Ausdruck von Wohlstand und bürgerlicher Normalität gewohnt, regelmäßig Ferien zu haben und überall in der Welt Urlaub machen zu können.

Meine Mutter ist Jahrgang 1934 und konnte in ihrer Kindheit im Sommer nie in Ferien fahren. Stattdessen verbrachte sie viele Nächte in Angst- und Panikzuständen im Krieg im Keller wenn in Wuppertal und Umgebung stundenlang die Bomben fielen und nie sicher war wer am nächsten Tag noch leben würde und welche Häuser noch stehen würden. Als der Krieg vorüber war und die Jugend hätte beginnen können, war ihr Nervensystem durch die Nächte im Bombenkeller marode, ein Leben lang. Zusätzlich durch Erbanlagen orthopädisch geschwächt, waren auch dem jugendlichen Selbstbewusstsein einer heranwachsenden Frau von Anfang an die gesundheitlichen Grenzen einer schüchternen Außenseiterin gesetzt. Trauma-Therapien gab es damals nicht.

Meine Mutter konnte nicht mit körperlichem oder psychischem Selbstbewusstsein glänzen. Sie hat sich die Kraft zum Leben, zur schulischen Ausbildung und das Selbstvertrauen in ihre emotionale und intellektuelle Intelligenz vor allem anderen immer ganz bewusst aus der Liebe zu Jesus Christus, aus der Liebe von Jesus Christus und aus dem Glauben an einen Gott der Erlösung, der Liebe und der Gnade geholt. Dieser Glaube war wohl von ihrem evangelischen Elternhaus geprägt worden, in seiner alltäglichen Praxis in unserer Familie ging es dabei aber hauptsächlich immer um einen eigenen persönlichen Zugang zum „Gott der Liebe“ durch Jesus Christus im Gebet. Das Herz im Gebet auszusprechen und alles was im Alltag das Herz bedrängt dem Göttlichen im Gebet zu übergeben, war tägliche Praxis vor dem Schlafgehen. Zu Beten funktionierte auch als sanfte Hilfe friedlich schlafen zu können ganz wundersam und schenkte uns psychologisch hilfreiche, frühe kindliche Zugänge zu mystischen Prinzipien des Loslassens und der Hingabe.

„Wir können dankbar sein.“ Dieser Satz wurde zum Leitspruch meiner Mutter und in unserer Herkunftsfamilie mit 4 Kindern. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit erinnerte sie uns daran: „Wir können dankbar sein.“ Im Unterschied zu dem Satz „Ich bin dankbar.“, schwingt in der Formulierung „Wir KÖNNEN dankbar sein“ eben auch immer die Weisheit einer demütigen Haltung dem Leben gegenüber mit, nämlich dass gute Zeiten nicht selbstverständlich sind, wie aber auch das Gedenken an konkrete Anlässe der Dankbarkeit, wie z.B. Gesundheit, ein Dach über dem Kopf, ein Einkommen und wohlwollende und liebende Menschen und Frieden in der Familie. „Wir können dankbar sein“ wurde, einem Mantra gleich, zu einer Parole geistlicher Selbstvergewisserung und Bezeugung der geistigen Wirklichkeit des Göttlichen durch das demütige Herz meiner Mutter: „Danke für unser Leben Herr, Du hast meine Gebete erhört! Wir können dankbar sein.“

Dankbarkeit erleichtert das Leben kolossal. Einige wenige Minuten der Besinnung auf die Hilfe, auf die Liebe, auf das Gute, Wahre, Schöne, dass ich vom Leben durch andere Menschen schon empfangen habe, beruhigt die Nerven und den Geist, bringt das Ego zum Schweigen und schenkt der Seele neue Kraft und Vertrauen in den Tag und die Zeit, die vor uns liegt.

Darüberhinaus hat Dankbarkeit auch eine ganz konkrete, technische, physikalische und energetische Bedeutung. In dem ich mich durch Dankbarkeit in der spirituellen Königsdisziplin der Demut übe und ich mir bewusst mache, dass nichts im Leben selbstverständlich ist und ich der „Quelle des Lebens“ und den Menschen in meinem Leben Dankbarkeit bezeuge, verwandle ich die Hilfe und Unterstützung, die ich durch andere Menschen vom Göttlichen bekommen habe in etwas Eigenes, das fortan in mein eigenes Bewusstsein auch bewusst integriert ist und so dann auch als aktive Kraft durch meine eigene Lebensführung zum Ausdruck kommen kann. Wenn wir dankbar sind, stärken und segnen wir also nicht nur den Geber, sondern vor allem tun wir dadurch auch uns selbst etwas Gutes und stärken unsere eigene Seele und psychische Gesundheit.

Als Pädagoge und Ausbilder des Releasing-Verfahrens von Dr. E. Isa und R. Yolanda Lindwall ist mir in der täglichen Releasing-Praxis immer wieder aufgefallen, dass Menschen, die mit Dankbarkeit durch das Leben gehen, auch etwas leichter loslassen können. Woran mag das liegen?

Ich vermute es liegt auch daran, dass Menschen mit einem Herzen voller Dankbarkeit nicht so sehr mit ihrem Ego-und Persönlichkeitsbewusstsein identifiziert und „verheiratet“ sind. Dankbarkeit ist eine sehr tiefe Herz- und Seelenqualität. Um Dankbarkeit überhaupt empfinden zu können, bedarf es des Abstandes und der inneren Distanz von den vielen sozialen Rollen und Verpflichtungen, die wir täglich in der Außenwelt zu spielen und zu erfüllen haben. Wer nie zufrieden ist und immer noch mehr haben, machen und werden will, hat keine Zeit für Dankbarkeit. Die Wahrnehmung von Dankbarkeit bedarf körperlicher Ruhe, innerer Stille und einer empfänglichen, seelisch sensiblen Haltung. Das sind auch genau die Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, um mit Hilfe von Releasing loslassen zu können.

Beim Releasing geht es ja bekanntlich in der Praxis darum, in einer Tiefenentspannung „nicht erlöste seelische Themen und Erinnerungen“ mit Mut, Mitgefühl und Liebe anzuschauen, zu akzeptieren, anzunehmen, auszuatmen und loszulassen. „Nicht erlöste seelische Themen und Erinnerungen“ sind gerade eben weil sie „nicht erlöst“ sind, Erinnerungen, für die wir in der Regel als Menschen eben NICHT dankbar sind. Sonst hätten wir ihnen als Erwachsene ja schon ja schon längst eine neue positive Bedeutung und einen Sinn geben können. Für schöne, also erlöste Seelenerinnerungen dankbar zu sein ist keine Kunst. Das fällt uns leicht. Schwierigen, abgründigen, dunklen, konfliktreichen, tragischen oder verletzenden Erfahrungen aus der Vergangenheit nachträglich etwas Positives abzugewinnen ist hingegen eine Kunst, – eine Lebenskunst, die sehr viel Lebenserfahrung, Demut und Selbsterkenntnis braucht, die Kunst unser Leben mit den Augen von bedingungslosem Mitgefühl, Güte und Liebe neu zu deuten.

Loslassen mit Releasing nach Dr. E. Und R. Lindwall ist in der Praxis tatsächlich ein Prozeß der Neuinterpretation und Deutung „nicht erlöster seelischer Erinnerungen“ aus der Vergangenheit. Wenn schwer wiegende, schwierige, hemmende, blockierende und sogar traumatische Ereignisse aus der Vergangenheit wie im Releasing in einem Geist von bedingungslosem Mitgefühl und Liebe akzeptiert, angeschaut, angenommen werden, findet Loslassen statt, in dem der Kampf und die Widerstände gegen diese Gefühle, Empfindungen und Erinnerungen aufgegeben wird. Tränen können fließen, der emotionale Druck lässt nach, Projektionen lösen sich auf, Unbewußtes wird bewußt und Unausgesprochenes kann ausgesprochen werden.

Dann können traumatische Ereignisse aus der Vergangenheit der eigenen Biographie im Rückblick plötzlich eine neue positive Deutung und Bedeutung für unser Leben erfahren, zum Beispiel als lebenslanger biographischer Antrieb starke charakterliche Qualitäten zu entwickeln, als Katalysator für die lebenslange Suche nach Sinn, Gerechtigkeit, Wahrheit und Gott oder als Antrieb soziale, helfende und heilende Berufe zu ergreifen oder sich zu anderweitig zu bilden und das eigene Bewusstsein zu entwickeln.

So können wir mit Loslassen durch Releasing tatsächlich lernen eines Tages auch dankbar für frühere negative Lebenserfahrungen zu sein, denn sie haben uns gedient unsere Stärken zu entwickeln. Wer Loslassen mit Releasing praktizieren möchte, kann es sich also beim Loslassen leichter machen und sich selbst befragen, für welche Erfahrungen er denn in seinem Leben zutiefst dankbar ist. Wer wirklich „Danke“ für die guten Gelegenheiten, Fügungen und Zeiten im eigenen Leben gesagt hat, dem fällt es erfahrungsgemäß leichter auch die schwierigen Zeiten akzeptieren und loslassen zu können. Dankbarkeit ist das Gedächtnis der Liebe und schenkt der Seele Kraft zum Weitergehen und Loslassen!

Meine Mutter hat niemals bewusst Releasing praktiziert. Ich glaube, dass war ihr nicht so ganz geheuer, dass Menschen sich absichtlich hinlegen um freiwillig zu weinen. Ihr hat der christliche Glaube geholfen die dunklen Erfahrungen aus der Kindheit in Lebensmut, Demut und Dankbarkeit für ein neues Leben zu verwandeln.

Früher, also sehr viel früher liebe Kinder, seit Ende der Sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als es die finanziellen Verhältnisse erlaubten, ist sie dann mit uns und unserem Vater endlich doch noch und liebend gern in den Sommerurlaub an die Nordsee gefahren, hat sich mit cooler Sechziger Jahre – Sonnenbrille gesonnt und uns Kindern zugeschaut, wie wir mit Muscheln die Sandburg um den Strandkorb verziert haben. Und als wir Kinder dann alle aus dem Haus waren, wurde bis vor einigen Jahren Wandern auf Mallorca ein Himmel auf Erden für unsere Eltern. Doch dann reduzierte sich altersgemäß ihr Lebensradius von Jahr zu Jahr.

Kein Urlaub mehr im Süden oder Norden. Keine Reisen mehr. Kein Autofahren mehr. Altersschwäche. Stürze. Kurzzeitpflege. Keine nächtliche Sicherheit beim Aufstehen und Gehen mehr. Mehr Stürze. Dann keine Unabhängigkeit mehr, kein vertrautes Zuhause mehr und stattdessen ein einziges großes lichtes Zimmer zusammen mit meinem Vater im Pflegeheim. Kein einziger Satz gelingt mehr, das Bewusstsein und die Seele ziehen sich schleichend zurück. Woher überhaupt noch Worte nehmen und welche Worte und in welcher Reihenfolge?

Friedlich, ganz ganz friedlich wie ein nach Innen lauschendes Kind sitzt sie meistens still und stumm am Tisch, greift nach der Hand meines Vaters immer wieder und erfreut sich an den Bewegungen da draußen vor dem Fenster in der Natur und an den Veränderungen der Lichtverhältnisse von Morgen bis zum Abend, vom Frühling bis zum Winter. Einige Jahre geht das schon so, kein Klagen, kein Jammern, keine Depression und kein Ärger, keine Wut, keine Aggressionen und keine Bitterkeit. So friedlich, wie ein schon vom Himmel träumendes Kind.

Wenn ich endlich mal wieder aus größerer Entfernung zu Besuch bei meinen Eltern sein kann und meine Mutter mich doch noch erkennt und realisiert, dass ich wirklich bei ihr im Raum bin, ist es als kehre die untergehende Sonne noch einmal kurz in ihre alte Behausung zurück und in ihren Augen geht noch einmal einige Minuten das Licht wieder an. Und wenn ich dann die Hände meiner Eltern halte und in ihre ganz eigene hermetische innere Welt der Demenz hinein behutsam frage: „Wie geht es Euch denn?“, dann sagte sie auch gerade neulich noch, ohne zu Überlegen, aus innerer Ruhe und mit fester Stimme: „Wir können dankbar sein.“

Markus Langholf,
Cap Sizun, Juli 2021

Sachdienliche Hinweise eines Releasing – Kulturpädagogen 😉

1. Playlist Summernight @ Cap Sizun 2021 • Wenn Euch dieser BLOG oben anspricht und erreicht, spricht viel dafür, dass Ihr es auch nicht bereuen werdet, Euch eine schöne freie Zeit allein oder mit Euren Lieblingsmenschen mit meiner neuen Playlist vom Cap Sizun zum Sommer 2021 zu machen. (Siehe unten) Nach der langen schwierigen Corona – Phase seit März 2020 enthält die Liste zunächst auch einige wunderschöne melancholische Stücke, die auch noch verborgene Traurigkeit, Einsamkeit, Trauer lösen und Sehnsucht befreien können, bevor dann richtig getanzt werden kann bis im letzten Drittel der Liste einige für mich herausragende musikalische Neuentdeckungen wie z.B. die komplette Musik von „The Magic Mumble Jumble“ und von „Levon Minassian“ das Herz ganz öffnen und tief in die Stille führen können. Viel Spass! Resonanz gerne an: malangholf@t-online.de

2. Neuerscheinung! Bei sheema.de gibt es bekanntlich wunderbare Releasing-Bücher aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Wir freuen uns sehr für alle Eltern und Kinder, dass es jetzt eine neue Autorin aus dem Kreis der Releasing-Praktizierenden gibt. Die wunderbare Kunsttherapeutin Katharina Müller hat aus ihren Seelen- und Releasingerfahrungen geschöpft und ein wunderschönes großformatiges Kinderbuch veröffentlicht: „Käthes wundersame Reise ins Herz; Eine Geschichte mit stärkenden Meditationen für Kinder ab 5 Jahren! Mit vielen berührenden bunten Malereien und Illustrationen und Kind gerechten Phantasie- und Meditationsreisen. Da möchte man selbst nochmal Kind sein. Aber Enkelkinder freuen sich auch. Erschienen im LebensGutVerlag. www.lebensgut-verlag.de

3. Aufruf zum beseelten Leben • Die Heiligenfelder Kliniken, die in Deutschland Vorbild und Wegbereiter sind, wenn es bei Therapie auch um die Dimensionen von Spiritualität und Seele geht, haben ihren „Aufruf zum Leben“ anlässlich der Corona-Pandemie aktualisiert. Er nennt sich jetzt
„Aufruf zum beseelten Leben“. Jede Unterstützung wert! Danke!
www.aufruf-zum-leben.de

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